Der Titel von Natahalie Klüvers Veröffentlichung „Deutschland, ein kinderfeindliches Land?“, hatte uns im Ortsverband Speyer und bei Soroptimist International, Club Speyer, elektrisiert, der Inhalt um so mehr:

Die Buchautorin, Bloggerin und Journalistin spricht für sich und viele Eltern, ihre Stimmung: #mütend, eine sprachliche Wortschöpfung zwischen müde und wütend. Kinder und Familien sind im Alltag zunehmend unerwünscht, sei es im Restaurant, im Park mit dem Spielplatz (Kinderlärmklagen!), als Mieter, im Straßenverkehr, beim Reisen. Sie werden als „Störfaktor“ aus dem öffentlichen Leben in Randzonen verdrängt, sie werden unsichtbar, ihre Bedarfe dadurch umso schneller übersehen. Die Folge: Die Gesellschaft ist der Kinder und Familien immer mehr „entwöhnt“.

Dadurch geraten Familien, Eltern, und oft gerade die Mütter in schier ausweglose Situationen: was ihnen auf dem Papier versprochen wird, ist reine Theorie, die durch die tägliche Wirklichkeit entlarvt wird. Das gilt für die sogenannte Vereinbarkeit von Familie und Beruf wie auch für die Zuverlässigkeit der Kinderbetreuung in den Kitas. Dieser Anspruch reicht nur so weit, wie entsprechend geeignetes Personal verfügbar ist – ansonsten stehen die Eltern in der Pflicht. Eine Familie gründen, sich für Kinder entscheiden, das ist ja alles eine reine Privatsache, oder?

So pointiert fasst Nathalie Klüver eigene Erlebnisse als dreifache Mutter zusammen. Als Journalistin hat sie sehr gewissenhaft recherchiert und auch sperrigere Themen nicht ausgelassen. Sie belegt und kritisiert tatsächliche, erhebliche strukturelle Benachteiligungen von Eltern, die durch die Politik behoben werden könnten: im Steuerrecht (Ehegattensplitting, Mehrwertsteuer), im Generationenvertrag des deutschen Rentensystems, im Wahlrecht. Kinderarmut in einem Prozentsatz von 21-25% (je nach Berechnung) wird in Deutschland gesellschaftspolitisch achselzuckend hingenommen. In skandinavischen und anderen europäischen Ländern gibt es weitaus kinder- und familienfreundlichere Lösungen.

Im Gespräch mit Christa David-Wadle zeigte Nathalie Klüver auf, wie ein gesellschaftlicher Wandel zu einer nachhaltigen, fairen Gesellschaft möglich ist: wir müssen die Politik aus der Perspektive der Kinder heraus denken. Hier sind ihre „10 Schritte für mehr Kinderfreundlichkeit“:

    1. Kinderrechte im GG verankern, mit dem Zusatz „vorrangig“
    2. Wahlrecht ab 16 Jahre als erster Schritt zum Wahlrecht für alle
    3. Sämtliche politische Entscheidungen auf Auswirkungen auf Kinder überprüfen
    4. Finanzielle Entlastung von Familien durch einschneidenden Umbau des Steuersystems
    5. Teilhabe und Chancengerechtigkeit stärken            
    6. Straßenverkehr und öffentlichen Raum kindgerecht gestalten
    7. Partizipatioin konsequent ermöglichen
    8. Vereinbarkeit von Beruf und Familie stärken
    9. Kinderarmut bekämpfen
    10. Ein neues soziales Miteinander

Die beiden Organisationen, DKSB OV Speyer und Soroptimist International, Club Speyer, hatten sich als Veranstaltende dazu entschlossen, für den Themenabend die Buchvorstellung durch eine Podiumsdiskussion zu ergänzen, mit der sie ihre Situation vor Ort und ihre Wahrnehmungen zu dem von Nathalie Klüver aufgerufenen Thema vorstellten. Rosemarie Keller-Mehlem, Leiterin der Kindertagespflege in der Trägerschaft des DKSB OV Speyer, Kerstin Scholl, Konrektorin der Adolf-Diesterweg-Realschule Plus in Ludwigshafen Mitte, Marlen Sattel, Schülerin und Mitglied des Jugendstadtrates Speyer, Stefanie Seiler, die Oberbürgermeisterin der Stadt Speyer und Joachim Türk, der Vizepräsident des Bundesverbandes des DKSB beleuchteten das Thema eindrücklich jeweils aus ihren Perspektiven.

Ihre Botschaften:

Familien brauchen Unterstützung – oft gerade individuelle Lösungen für individuelle Herausforderungen. Die können wir finden, wenn wir hinhören und uns engagieren! Das gelingt uns in der Kinder- und Tagespflege in Speyer oft sehr gut. (Rosemarie Keller-Mehlem)

 

Chancengerechtigkeit und Kinderarmut müssen zusammen gedacht werden: gerade Schulen in schwierigem Umfeld brauchen besondere Unterstützung; es ist inakzeptabel und falsch, genau jetzt und dort die Unterstützung durch die öffentliche Hand einzuschränken! (Kerstin Scholl)

 

Ich spreche viel mit meinen Freund*innen, auch über Politik. Junge Menschen sind politisch interessiert und können verantwortlich mitgestalten, wenn man sie lässt! (Marlen Sattel)

 

Ja, wir haben schon viel bewirkt und könnten heute für unsere Kommune eine Liste aufmachen über alle diese Errungenschaften. Und doch tut es mir weh, zu wissen, was noch im Argen liegt, davor dürfen wir Verantwortlichen nicht die Augen verschließen. Wir haben eine Verantwortung für unsere Familien und jungen Menschen, bleiben wir dran! (Stefanie Seiler)

 

Manchmal scheint es, als ob unsere politische Lobbyarbeit für Kinder und Familien keine Früchte trage. Wir diskutieren seit Jahren über diese wichtigen Themen wie die Kinderrechte, Kinderarmut, die neuen Gefahren für Kinder und Jugendliche im Netz und machen, so kommt es uns vor, nur kleine oder gar keine Fortschritte. Aber so dürfen wir es nicht sehen: Das stete Bemühen schafft doch gesellschaftliche Einsichten. Die Veränderung des Bewusstseins in Bezug auf Gewalt (körperliche und seelische) gegen Kinder in den letzten 30 Jahren ermutigt dazu, an all diesen wichtigen Themen politisch weiter zu arbeiten. Wir sind die Lobby für Kinder und können etwas bewirken, auch jede/r Einzelne kann das. Dazu rufe ich auf.(Joachim Türk)

Die Botschaften erreichten fast 130 interessierte Zuhörer*innen im Historischen Ratssaal der Stadt Speyer. Der Eintritt zu dem Themenabend war umsonst; in einem kurzen Einspieler hatten die Kinder der Spiel- und Lernstube NORDPOL in Speyer Nord ihre Einrichtung vorgestellt: und für sie und ihr Ferienprogramm 2024 wurden dann auch Spenden gesammelt. Es wurden 415 EUR erzielt.

Atmosphärische Eindrücke in unserer Bildergalerie: