Bei einem Netzwerktreffen zum Thema „Sexualisierte Gewalt“ im Herbst 2021 hat der Jugendstadtrat der Stadt Speyer ein Statement mit eigenen Erfahrungen zu dem Thema verfasst und bittet uns, dies auf unserer Homepage zu veröffentlichen. Diesem Anliegen kommen wir hier gerne entgegen.
HIer ist der Text des Jugenstadtrates:
„Wir Schüler*innen sind über das Thema „sexualisierte Gewalt“ vollumfänglich aufgeklärt, denn es
wird ja an den Schulen ausreichend behandelt, oder?
Leider können wir dem nicht aus voller Überzeugung zustimmen. Nachdem wir zunächst ein wenig
um den heißen Brei herum geredet haben, haben wir in unserer Sitzung festgestellt, dass dieses
Thema im Sexualkunde-Unterricht wenig umfassend gelehrt wird.
Zum einen versuchen unsere Lehrer*innen, das Thema Sexualität in jedem Sinne so
wissenschaftlich wie möglich zu erklären. Beim Thema sexualisierte Gewalt jedoch kommt es ganz
auf die Motivation unserer Lehrer*innen an.
Wenn es nun aber doch dazu kommt, dass im Rahmen dieses Unterrichts die sexualisierte Gewalt
zur Sprache kommt, so ist das Thema oft auf diese Fragen fokussiert: Wie können sich Mädchen
schützen? Wie sollten sie sich im Falle eines Falles verhalten und wo können sie sich Hilfe suchen?
Das ist wichtig. Aber es reicht nicht. In unseren Gesprächen ist uns aufgefallen, dass sich die
Aufklärung oft nicht nur inhaltlich auf Mädchen begrenzt, sondern leider auch nur an sie, separiert
von ihren Klassenkameraden, weitergetragen wird. Das ist vielleicht erst einmal naheliegend, da der
Großteil der Opfer weiblich sind. Aber auch Jungs werden Opfer sexualisierter Gewalt, ein Thema,
das oft mit Scham behaftet ist. Gleichzeitig sind die meisten Täter*innen männlich – auch oder
vielleicht gerade darum ist es wichtig, dass alle über das Thema sprechen. Sexualisierte Gewalt
betrifft alle Geschlechter, als potentielle Opfer, Täter*innen oder deren Umfeld. All sie müssen
sensibilisiert werden, um Übergriffen vorbeugen zu können und im Zweifelsfall richtig reagieren zu
können. Gefährliche Mythen, zum Beispiel dass Übergriffe durch das Tragen anderer Kleidung
abgewehrt werden können oder dass Jungs keine Opfer werden können, müssen dringend abgebaut
werden. Nur so kann verhindert werden, dass Victim-Blaming oder Scham Betroffene zum
Schweigen bringen.
Aufklärung über sexualisierte Gewalt darf sich außerdem nicht darauf begrenzen, wie man sich
potentiell während und nach übergriffigen Situationen verhält. Nicht umsonst ist der Name dieser
Veranstaltung ‚Prävention sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen‘, Vorbeugung also.
Laut dem Bundesbeauftragten für sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen findet
Missbrauch vor allem im nahen sozialen Umfeld statt. Das macht Situationen für Betroffene oft
weniger fassbar, Täter*innen weniger angreifbar. Während Übergriffe auf offener Straße von außen
oft viel eindeutiger als Gewaltsituationen eingeordnet werden, scheinen sie im engen Umfeld
verdeckter zu sein. Während unbekannte Täter*innen von Angehörigen einfacher als bedrohlich
wahrgenommen werden, werden bekannte Täter*innen zu oft vom engen Umfeld gedeckt. Darum
ist es wichtig, zu behandeln, dass sexualisierte Gewalt immer Gewalt ist, egal wo und durch wen.
Dass es wichtig ist, Betroffene ernst zu nehmen, auch wenn sich der oder die Täter*in im eigenen
Freundeskreis befindet.
Sexualisierte Gewalt hat viel mit Grenzen zu tun. Übergriffigkeit bedeutet, die Grenzen einer
anderen Person zu überschreiten. Unsicherheit und Unwissenheit führen dazu, dass manche nicht
wissen, ob Situationen wirklich falsch sind, wenn sie sich falsch anfühlen. Ob nicht vielleicht doch
sie selbst das Problem sind, anstatt der Täter*innen. Als junger Mensch gerät man häufig ungeahnt
in brenzlige Situationen. Da würde es helfen, wenn vorher jemand „Tacheles“ mit einem geredet
hätte. Unser Appell an alle Lehrenden lautet daher: Nehmen Sie bitte kein Blatt vor den Mund!
Vielleicht ist es uns Schüler*innen in diesem Moment peinlich, über Sexualität und alles damit
zusammenhängende zu sprechen. Aber im Ernstfall hätte vielen eine ausführlichere Aufklärung
womöglich geholfen.
Zu dieser ausführlicheren Aufklärung gehört zum Beispiel das Wissen über die persönlichen
Grenzen, das Selbstbewusstsein, diese zu äußern und die Kenntnis, dass es falsch ist, wenn jemand
diese Grenzen überschreitet. Umgekehrt ist es natürlich wichtig, zu lernen, die Grenzen anderer
Menschen zu respektieren. Nein heißt nein, so banal das auch klingen mag, aber leider ist es nicht
selbstverständlich. Konsens ist ein weiteres Stichwort, Einvernehmlichkeit.
Es mag manchen unangenehm vorkommen, darüber zu lehren. Zu persönlich und zu intim. Aber
Wissen ist Macht. Täter*innen wissen oft genau, was sie tun und profitieren davon, wenn ihre Opfer
nicht richtig einordnen können, was ihnen eigentlich widerfährt. Dies betrifft vor allem junge
Menschen.
Sexualkunde darf sich nicht nur auf Meiose und Mitose begrenzen. Tabus dürfen nicht dazu führen,
dass nicht über sexualisierte Gewalt geredet wird.
Erklären Sie, dass jeder Opfer dieser Form von Gewalt werden kann und dass das nichts ist, wofür
man sich schämen muss. Machen Sie klar, dass sexualisierte Gewalt definitiv eine Art von Gewalt
ist, die man anzeigen und der man nachgehen muss. Helfen sie ihren Schüler*innen, das Thema in
all seinen Nuancen zu erfassen und ernst zu nehmen. Lehren sie, eigene Grenzen zu ziehen und
andere Grenzen zu achten.
Wir sind dankbar für alle Lehrer*innen und Pädagog*innen, die sich trotz der Tabus und der
Sensibilität dem Thema ‚Sexualisierte Gewalt‘ annehmen und junge Menschen vernünftig
aufklären. Wir wollen sie ermutigen, darüber zu reden und zu lehren, sei es im
Sexualkundeunterricht, an Infotagen oder in Klassenleiterstunden. Ich hoffe, sie wissen, dass sie
damit vielen jungen Menschen helfen.“
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